Strategy Blog
Von Victor BalfourDie vorgezogene Bundestagswahl in Deutschland am 23. Februar rückt näher, und ein politischer Umbruch steht bevor.Der amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz von der SPD steht vor einer grossen Herausforderung. Friedrich Merz und die Union (bestehend aus CDU und CSU) liegen neun Punkte vor ihrem nächsten Konkurrenten, der rechtspopulistischen AfD. Da es in der Bundesrepublik Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg üblich ist, dass keine Partei eine absolute Mehrheit erreicht, scheint eine Rückkehr zu einer „Grossen Koalition“ zwischen der konservativen Union und der Mitte-Links-SPD das wahrscheinlichste Szenario zu sein. Meinungsumfragen (%)Quelle:Rothschild & Co, Bloomberg, Kantar, Forsa, INSA-Meinungstrend, YouGov, Infratest Dimap/ARD. Anmerkung: Gibt den gleitenden 15-Tage-Durchschnitt von fünf wichtigen nationalen Meinungsumfragen wieder. Begrenzte Daten für BSW, die eine einzige Umfrage widerspiegeln.Es ist jedoch davon auszugehen, dass diese Wahl unvorhersehbar und hart umkämpft sein wird. Alternative Koalitionen sind möglich, aber nicht unbedingt praktikabel – oder für viele Wähler akzeptabel. Die gescheiterte „Ampel“-Koalition aus SPD, FDP und Grünen war von einer unklaren Politik und widersprüchlichen Ausgabenplänen geprägt. Zwei Jahre lang gab es Streit, bis die Koalition schliesslich im November zerbrach und die vorgezogenen Neuwahlen erforderlich machte.Die Umfragen schwanken weiterhin – die Union hat an Schwung verloren, während die AfD zulegt. Zudem ist ungewiss, welche Parteien die 5-Prozent-Hürde überschreiten werden und wie sich dies auf die Neuverteilung der Sitze im Bundestag auswirken wird. Die liberale FDP, die ideologisch am ehesten zur Union passen würde, könnte am Ende ganz aus dem Parlament fliegen.Deutschland und seine Wähler stehen vor einer Vielzahl von Herausforderungen – wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, ökologischen und nun auch aussenpolitischen, da mit einem angriffslustigen Präsidenten Trump erneut Unsicherheit ins Spiel kommt. Doch nicht alle dieser Probleme sind einzigartig für Deutschland.Wirtschaftliche Belange stehen im VordergrundDas vielleicht drängendste Problem ist die stagnierende Wirtschaft, die für viel Unruhe im Land sorgt. Die Produktion ist in zwei aufeinanderfolgenden Jahren leicht zurückgegangen – belastet durch den zunehmenden Wettbewerb (insbesondere im wichtigen Automobilsektor, der zusätzlich mit der Umstellung auf Elektrofahrzeuge kämpft), hohe Energiekosten und Energieunsicherheit sowie einen lang anhaltenden Stillstand der weltweiten Produktion. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland steigt stetig (wenn auch von einem niedrigen Niveau aus), und das Vertrauen der Wirtschaft ist geschwächt.Merz hat Wirtschaftsreformen in den Mittelpunkt seines Wahlkampfs gestellt. Er will die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands wiederherstellen, Klimaziele zurückschrauben und neue aussenpolitische Prioritäten setzen – mit dem Ziel, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Allerdings hält er an der traditionell vorsichtigen Haltung Deutschlands bei der Staatsverschuldung fest, der sogenannten Schuldenbremse. Diese Position könnte ihn in Konflikt mit einem potenziellen Koalitionspartner, der SPD, bringen, die Reformen gegenüber aufgeschlossener ist. Finanzpolitische Differenzen waren bereits ein zentraler Faktor für das Scheitern der Regierungskoalition im November, als die Scholz-Regierung eine höhere Kreditaufnahme anstrebte.Merz' Strategie ist jedoch nicht unumstritten. Vor Kurzem scheiterte sein Versuch, die deutsche Migrationspolitik deutlich zu verschärfen – möglicherweise unter Verstoss gegen europäisches Recht – in dem Versuch, sich politisch weiter rechts zu positionieren. Damit brachte er nicht nur viele in seiner Partei und seiner Wählerschaft gegen sich auf, sondern unterlief auch die langjährige Strategie, nicht mit der AfD zu kooperieren – die den Vorschlag nur allzu gerne unterstützte.Der Aufstieg der AfD: eine wachsende HerausforderungDie AfD hat sich noch mit keiner der grossen Parteien verbündet – die sogenannte „Brandmauer“ bleibt vorerst intakt. Doch ihr Aufstieg ist besorgniserregend, nicht nur in den Umfragen, sondern auch durch deutliche Zugewinne bei verschiedenen Landtagswahlen. Während ein „Dexit“ – also der Austritt Deutschlands aus der Eurozone – für die AfD kein ernsthaftes Ziel darstellt, sind ihre nationalistischen Ambitionen unübersehbar. Es ist ihr gelungen, die wachsende Frustration über die wirtschaftliche Lage, die Klimapolitik und gesellschaftliche Herausforderungen wie die Zuwanderung für sich zu nutzen. Merz' umstrittene Bereitschaft, mit rechtsextremen Politikern wie Alice Weidel von der AfD zu interagieren, dürfte das populistische Pendel weiter antreiben. Obwohl die AfD bisher keine Rolle in einer Bundesregierung gespielt hat, wird sie am 24. Februar voraussichtlich zur zweitstärksten Partei im Bundestag aufsteigen.Unabhängig davon, welche Koalition gebildet wird – ob gross oder bunt gemischt –, verfügt Deutschland in Wirklichkeit über erheblichen finanzpolitischen Spielraum (vermutlich mehr als jede andere grosse Volkswirtschaft), sofern es gelingt, die legislativen Hürden zu überwinden. Dringende und drastische Reformen sind möglicherweise nicht so zwingend erforderlich, wie es die aktuelle öffentliche Debatte suggeriert. Doch eine politische Lähmung in der Haushaltspolitik oder ein Zögern, die im jüngsten Draghi-Bericht der EU-Kommission identifizierten strukturellen Probleme anzugehen, könnte die AfD langfristig weiter stärken.In der Zwischenzeit betrachten wir als Anleger deutsche Aktien – die sich zuletzt stark entwickelt haben – und Anleihen üblicherweise als Teil einer umfassenderen Einschätzung der europäischen Märkte. In dieser Hinsicht sind wir aus einer Top-down-Perspektive derzeit weder besonders positiv noch negativ eingestellt. Trotz innenpolitischer Herausforderungen hängen die wirtschaftlichen Aussichten für Deutschland und die Region oft stärker von der Entwicklung des Welthandels ab, insbesondere in Asien – schliesslich ist Deutschland eine exportorientierte Wirtschaft. Zwar sind wir optimistisch, dass sich das Wachstum dort wieder beleben kann, doch kurzfristig bleibt es stark von den Entwicklungen im und um das Weisse Haus abhängig – ein Faktor, der sich der Kontrolle jeder Koalition im Bundestag entzieht.