Wealth Management: Die Strategieüberprüfung der EZB

Volkswirtschaftlicher Blog

Rothschild & Co Wealth Management Deutschland, Frank Hübner

Das Warten hat ein Ende: Die EZB aktualisiert ihre geldpolitische Strategie

Rund 18 Jahre nach der letzten Überarbeitung im Mai 2003 hat die Europäische Zentralbank (EZB) ihre geldpolitische Strategie aktualisiert und im Juli 2021 veröffentlicht. Dabei hat sich die Notenbank vor allem eine klare und transparente Kommunikation auf die Fahnen geschrieben. Ein Blick auf die zentralen Elemente der überarbeiteten Strategie führt dann auch zu einem einfachen Schluss: Die EZB ändert nichts am Kern ihrer Mission. Die Adjustierungen der geldpolitischen Strategie betreffen eher das "Kleingedruckte" und präzisieren wichtige bereits eingesetzte Bausteine der Geldpolitik. Überdies öffnen sie den Blick auf eine prominentere Rolle von strukturellen Themen wie Klimawandel und Finanzmarktrisiken bei der Bestimmung und Umsetzung des geldpolitischen Kurses. Damit ist der "Strategy Review" der EZB durchaus relevant für alle Finanzmarktakteure und Prognostiker. Mit der überarbeiteten geldpolitischen Strategie wird sich allerdings eines auf absehbare Zeit nicht verändern: Der aktuelle geldpolitische Kurs der EZB. Dies hat sich bereits in der EZB-Sitzung Ende Juli gezeigt und dürfte die momentan wichtigste Botschaft für die Anleger sein.

Kleiner, aber wichtiger Unterschied: Das Inflationsziel wird präzisiert

Das primäre Mandat der EZB ist Preisstabilität. Es lag daher auf der Hand, dass die Notenbanker bei der Überarbeitung ihrer geldpolitischen Strategie einen Schwerpunkt auf ihr Inflationsziel legen. Wie andere zentrale Elemente des "Strategy Reviews" ist dieses präzisiert und in Einklang mit der EZB-Politik in den letzten Jahren gebracht worden. Seit Mai 2003 strebte die EZB mittelfristig eine Inflationsrate "nahe, aber unter 2,0%" an. Diese Formulierung bot einen gewissen Interpretationsspielraum und sorgte für Unsicherheit hinsichtlich des Reaktionsmusters der EZB bei unterschiedlichen Inflationstrends. Die unpräzise Zielvorgabe hat der EZB das Leben beim Bestreben, ihr Mandat zu erfüllen, unnötig schwer gemacht. Die EZB strebt nun mittelfristig eine numerisch fixierte Inflationsrate von 2,0% an. Zudem führt die EZB in ihrem neuen Leitbild ausdrücklich aus, dass es sich dabei um symmetrisches Inflationsziel handelt. Inflationsraten die dauerhaft unter 2,0% liegen sind genauso unerwünscht und geldpolitisch zu adressieren wie anhaltende Zielverfehlungen nach oben. Was wie eine eher semantisch anmutende Anpassung des Inflationsziels daherkommt, ist in der Praxis ein kleiner, aber wichtiger Unterschied.

Inflationstoleranz debütiert in der offiziellen EZB-Strategie

Präziser als vorher bedeutet nicht, dass das aktualisierte Inflationsziel der EZB absolut präzise ist. Die Notenbank strebt mittelfristig eine Inflationsrate von 2,0% an. Die mitschwingende zeitliche Unschärfe ist weniger eine aktiv von der EZB kreierte Hintertür, um diskretionären Entscheidungs- bzw. Handlungsspielraum zu erhalten. Sie ist vielmehr der Tatsache geschuldet, dass Inflationsraten nicht mit einem Zeithorizont von einem Kalenderjahr feingesteuert werden können. Seit ihrem "Strategy Review" im Mai 2003 verzeichnete die Eurozone kein einziges Jahr mit einer Inflationsrate von genau 2,0% oder leicht darunter. Im Zeitraum 2003 bis 2013 gelang der EZB aber mit einer durchschnittlichen Inflation von 2,0% eine Punktlandung - obwohl in dieser Periode sechs Jahre mit höheren jährlichen Preissteigerungsraten zu verzeichnen waren.

Seit 2014 liegen die Inflationsraten regelmäßig und teilweise markant unter der Marke von 2,0%. Im Gefolge dieser Entwicklung hat sich in den vergangenen siebeneinhalb Jahren ein "Inflationsdefizit" (zu niedrige Inflation) gegenüber dem EZB-Ziel von gut 7% aufgebaut. Dieses "Inflationsdefizit" ist der wesentliche Grund, warum die EZB den Fokus trotz der aktuellen Inflationsentwicklung unverändert auf die Bekämpfung der von ihr als größer erachteten Deflationsrisiken legt. Es ist auch der entscheidende Faktor dafür, dass die Tolerierung von vorrübergehend moderat über dem Inflationsziel liegenden Preissteigerungsraten Eingang in die offizielle EZB-Strategie gefunden hat. Diese höheren Inflationsraten sind für die EZB immer dann akzeptabel, wenn sie die temporäre Nebenwirkung einer aggressiv expansiven Geldpolitik zur Abwehr von Deflationsgefahren sind.

Quelle: Eurostat und eigene Berechnungen

*gemessen an einem unterstellten Inflationsziel von 2%

Quelle: Eurostat und eigene Berechnungen

*gemessen an einem unterstellten Inflationsziel von 2%

Unkonventionelle Geldpolitik wird zur Normalität?

Auch der Teil der überarbeiteten EZB-Strategie, der sich mit dem geldpolitischen Instrumentarium befasst, berücksichtigt nun die geldpolitische Praxis der letzten Jahre. Bausteine aus dem geldpolitischen Experimentierkasten, die im Gefolge der Finanz-, Staatsschulden- und Coronakrise ohne Netz und doppelten Boden eingesetzt wurden und werden, haben sich nach Ansicht der Notenbanker bewährt. Vormals unkonventionelle Instrumente, wie z.B.  negative Leitzinsen, Wertpapierankäufe und (weit) in die Zukunft reichende (kontext-verbindliche) Aussagen über den zukünftigen Trend der Leitzinsen (Forward Guidance) sind in das Standardrepertoire der EZB aufgenommen worden. Sie gehören damit zur geldpolitischen Normalität. Noch nicht ganz dort, aber auf den Weg dahin sind die geplanten Weichenstellungen hin zu einer "grünen" Geldpolitik, die den Herausforderungen des globalen Klimawandels Rechnung tragen soll. Die teilweise bereits in der Umsetzung befindlichen Elemente der angestrebten klimafreundlichen Geldpolitik betreffen aber im Wesentlichen Details der praktischen Umsetzung der Geldpolitik und der Finanzmarktaufsicht. Sie haben keinen direkten Einfluss auf geldpolitische "Kerngrößen" wie Leitzinsniveau oder die Volumina von Wertpapierankäufen.

Alles Neue macht der Juli? Veränderte Strategie – unveränderter Kurs

Die EZB will den im "Strategy-Review" praktizierten Austausch mit einer breiten Palette gesellschaftlicher Gruppen kontinuierlich pflegen. Der nächste Strategy Review soll aber nicht annähernd so lange auf sich warten lassen wie zuletzt, sondern bereits in vier Jahren erfolgen. Es ist möglich, dass sich die Leitzinsen der EZB bis dahin nicht sehr weit vom aktuellen Niveau wegbewegen. Schon bei der Vorstellung der neuen Strategie, spätestens aber nach der ersten Zentralbankratssitzung im neuen Strategieregime vom 22. Juli ist eines wie bereits erwähnt klar. Das aktualisierte geldpolitische Leitbild führt zu keiner Veränderung des aktuellen geldpolitischen Kurses. Im Gegenteil: Nach dem Motto eines ihrer Vorgänger "Sagen, was man tut. Tun, was man sagt." führte EZB-Präsidentin Lagarde aus, dass für die EZB eine Änderung ihrer aktuellen Ausrichtung auf absehbare Zeit nicht zur Debatte steht. An der kürzlich beschlossenen Aufstockung der Wertpapierkäufe werde festgehalten, eine Leitzinswende ist für lange Zeit nicht in Sicht. Die neue geldpolitische Strategie zeigte dabei mit Blick auf den Leitzinsausblick eine erste konkrete Wirkung. Die EZB setzt ein klares Kriterium für eine zukünftige Leitzinswende. Demnach erwartet die EZB, dass ihre Leitzinsen auf dem aktuellen oder einem niedrigeren Niveau bleiben bis die Inflation nachhaltig die 2,0%-Marke erreicht. Dies muss mit deutlichem zeitlichem Vorlauf vor dem Ende ihres im Durchschnitt drei Jahre betragenen Prognosehorizonts geschehen. Zudem muss die Notenbank überzeugt sein, dass das so erreichte Inflationsziel danach über einen längeren Zeitraum eingehalten wird.

Quelle: Bloomberg, Europäische Zentralbank und eigene Berechnungen

*EZB-Projektionen Juni 2021

Quelle: Bloomberg, Europäische Zentralbank und eigene Berechnungen

*EZB-Projektionen Juni 2021

Quelle: Bloomberg, aktueller Wert deckt die Inflationserwartung für den Zeitraum 2026-2030 ab

Quelle: Bloomberg, aktueller Wert deckt die Inflationserwartung für den Zeitraum 2026-2030 ab

Was bedeutet das konkret? Die aktuelle Prognoseperiode geht bis Ende 2023, wird aber in nicht allzu ferner Zukunft auf 2024 ausgedehnt. Präsidentin Lagarde präzisierte, dass die Inflation in der Mitte der Prognoseperiode die 2%-Marke erreichen soll. Gemessen an den aktuellen Inflationsprojektionen ihrer Volkswirte bedeutet dies, dass die EZB die Leitzinsen nicht vor Ende 2023 erhöhen wird. Gegenwärtig gehen die Experten der Notenbank davon aus, dass sich die Inflation in der Eurozone in den kommenden beiden Jahren bei rund 1,5% einpendeln wird. Sie läge damit deutlich unter dem Inflationsziel der EZB. Die an den Finanzmärkten abgeleiteten Inflationserwartungen ergeben ein ähnliches Bild. Aktuell werden am Anleihemarkt die implizit gehandelten Erwartungen für die durchschnittliche Inflationsrate im Zeitraum 2026 bis 2030 auf knapp 1,7% taxiert. Sollten sich diese Einschätzungen als korrekt erweisen und die EZB sich daran halten, verharren die Leitzinsen auch 2025 zum Zeitpunkt der nächsten Überarbeitung des geldpolitischen Leitbildes der EZB nominal und real im negativen Bereich.

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